Wir verstehen die Welt nicht mehr oder: Was tun?

Ich habe in den Tagen rund um die amerikanische Wahl, die Aufmärsche in Washington und die neuesten Geschmacklosigkeiten der AfD ein Experiment gewagt. Über ein Plugin habe ich meine IP-Adresse über zwei, drei Proxyserver nach Washington umgeleitet. Für weniger Technikaffine: Jede besuchte Seite ging nun davon aus, ich sei dort unterwegs. Dann habe ich mich auf Twitter gestürzt und die Ereignisse verfolgt. Ich kann das jedem empfehlen, der mal außerhalb unser liberalen Filterblase verstehen will, welchen inneren Krieg das große Land in Übersee grad durchmacht.

Das Lustige: ich wurde nicht schlau daraus. Im Gegenteil– je mehr ich in den Strudel der bunten Metaphern abtauchte, desto weniger fühlte ich mich informiert. Von beiden Seiten. Ob es die populären Vergleiche der Zuschauermassen waren oder lustige Side-by-Side Bulletpoints der (je nach Standpunkt) Errungenschaften oder Verfehlungen Obamas oder Trumps. Ob allerhand Statistiken zu ISIS, Trumps Geschäftsgebaren oder einfach nur Fotos, die den einen oder den anderen Präsidenten mit möglichst reißerischen One-Linern in schlechtes Licht zu rücken versuchten– die Mechaniken waren gleich. Plakativ. Provokativ. Teilweise von grotesker Albernheit.

Zum Glück wir sind im aufgeklärten Europa und kennen die Fakten, was? Und alle, die sie ignorieren, sind dumm und engstirnig. Hier gibt es noch keine Conways und Spicers im Kanzleramt, die Alternative Facts präsentieren.

Aber geht es überhaupt um die? Ich glaube: Es geht darum, was ihnen den Weg bereitet hat. Denn das wirklich Faszinierende in der Diskussion ist, dass wir zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zwei klare Fronten haben. Es geht uns mehr um Deutungshoheit als alles andere. Wo wir vor einigen Monaten noch so verwirrt waren, dass wir gar nicht wussten, wohin mit den Detaildiskussionen, gibt es nun wieder eine Welt in wunderbarem Schwarz-Weiß.

Wir laben uns, trotz Alt-Rechten und Brexit an den Verfehlungen eines großen, bösen, blonden Buhmanns. Das ist einfach. Das liberale, freiheitsliebende Deutschland. Endlich haben wir wieder moralisches Kampfgewicht. Jetzt noch Martin Schulz und 2018 fließen dann Milch und Honig durch die Spree. Schnell ein paar Memes und Tweets in der „Ich bin ein Star…“-Werbepause gezimmert  und ab dafür. Es fühlt sich so gut an, wieder zu den Guten gehören, oder? Endlich ist alles wieder leicht.

Das Problem: Wir tragen einen trivialen Kampf der Rechthaberei aus und vergessen dabei, auf die Straße zu gehen. Oder drastischer: Damit wir nicht auf die Straße gehen müssen. 

Wir alle wähnen uns auf dem glänzenden Thron der universellen Wahrheit. Genau wie die Republikaner und Demokraten. Zwei Teams, dazwischen ist nichts. Wie beruhigend. Ihnen sind in den letzten Wochen sicher auch die Informationsschnipsel, welcher Art auch immer begegnet. Aus dem Kontext gezogene Bilder oder dreizeilige Geschichten, die geteilt und geliked werden, um eine bestimmte Geisteshaltung zu demonstrieren. Wir wissen, dass das nicht unbedingt etwas bringt. Aber wir wollen uns gerne definieren. Zugehörigkeit demonstrieren. So wie die ganzen Pressesprecher, Künstler und Intellektuellen, die sich in Position bringen. Das ist gut und richtig. Aber warum scheint jeder darauf zu warten, dass etwas passiert? Die halbe Welt hängt gierig vor Twitter, Facebook und dem Fernsehen und ruft nach dem nächsten Akt in der tragikomischen Demontage der freien Welt. Warum eigentlich? Haben wir verlernt, für unsere Werte einzustehen? Die Hoffnung in echte Aktion verloren? Wo sind die Massenproteste gegen diese unglaublichen Ungerechtigkeiten, wie wir sie noch aus den Siebzigern kennen? Sind wir zu apathischen Elendskonsumenten verkommen?

Lassen Sie uns in unserem soziokulturellen Fesselballon kurz ein paar Meilen höher steigen und den Kontext der politischen Diskussion verlassen. Sehen Sie, wie all diese die Teilargumente und -informationen verschwimmen? Und je weiter wir uns entfernen, die zwei Fronten immer klarer werden? Und so auch das eigentliche Problem?

Es geht nicht um Populismus. Auch nicht um Fakten oder fakes.
Es geht um die exponentiell wachsende Komplexität der Welt.

Wir wollen sie wieder, die einfachen zwei Wahrheiten, aber nichts dafür tun. Denn alles um uns ist komplex, furchtbar komplex geworden und niemand vermag, gegen die unendliche Flut an Kommetaren, Argumenten und Statistiken aufzubegehren. Sie könnten unseren Ideen (und uns) den Boden unter den Füßen wegziehen, uns fallen lassen und zur Schau stellen. Wer will das schon wagen? In einer transparenten Welt, in der Gedichte monatelange Staatsaffären auslösen und ein falsches Wort Amt und Würde kosten kann, traut sich keiner, Fakten zu diskutieren, denn es gibt ja so viele. Für jede Statistik zur Flüchtlingsfrage zaubert der Gegner zehn eigene aus dem Hut. Und wer macht sich die Mühe, die zu überprüfen? Oder die Institute, aus denen sie kommen? Oder die Wissenschaftler in den Instituten?

Das ist kritisches Denken ad absurdum. Mit der Informationsflut des 21. Jahrhunderts vermengt sich alles zu einem Brei an Überwissen, mit dem keiner mehr umzugehen vermag. Die letzten paar tausend Jahre Menschheitsgeschichte waren angenehm. Wissen war Wissen. Forschungsergebnisse waren überschaubar, wahr und in handlichen Häppchen gereicht. Wir haben uns durch Forschung und Organisation von Wissen stetig weiterentwickeln. Das ist schließlich unser Erfolgsgeheimnis: Die Neugier, Einordnung und Kontextualisierung von Wissensfragmenten. Und das immer wieder, jedes mal ein wenig schlauer. Auf dem Weg springen ein paar nette Erfindungen heraus. Aber was, wenn wir etwas erfinden, dass diese Fähigkeiten unendlich beschleunigt? Etwas wie das World Wide Web? Diese Maschine lässt sich nicht langsamer schalten– oder aus.

Wir haben ein immer exakter werdendes Abbild des kollektiven menschlichen Bewusstseins geschaffen. Es potenziert unsere Innovationkraft–und Geschwindigkeit. Die Möglichkeiten einer Erfindung wie der Dampfmaschine ließen sich noch einigermaßen ableiten. Weil sie nur eine Teilentwicklung war. Die eines Bewusstseins ist aber ein Paradigmenwechsel. Durch uns alle denkt das Netz in einer Weise eigenständig, wägt Argumente hin und her vermischt Fakten und Gefühle, genau wie der Mensch selbst. Das macht uns Angst. Die Welt, die wir so schön einordnen und kategorisieren konnten, entgleitet uns. Und eigentlich wissen wir schon, dass uns der technologische Fortschritt überholt hat– würden es aber niemals offen zugeben. Wir gestehen uns nur schweigend ein, dass wir die Logarithmen hinter unseren Suchergebnissen und Touchscreens nicht mehr verstehen. Unterbewusst ist da diese Angst vor dem geistigen Kontrollverlust. Und mündet in Ohnmacht. So viel Information. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand und können nur glotzen.

Da kommen uns die aktuellen Entwicklungen gerade recht. Anders als im Ukrainekonflikt oder der Syrienkrise sind die Machtverhältnisse plötzlich wunderbar einfach zu durchschauen. Wir dürfen wieder urteilen. Übrigens genau die Gefühlskerbe, in die Rechtspopulisten allerorts schlagen: Radikale Vereinfachung, gewürzt mit Halbwahrheit und Lüge. Das Gefühl, verstanden zu haben, zu werden und die Verantwortung seelenruhig abgeben zu können. Gefährlich.

Was ist die Antwort? „Positiver“ Populismus, wie ihn viele von Schulz erwarten?

Ja und nein. Sicher, eine liberale Galionsfigur stände Europa, der vermeintlich letzten Bastion der Freiheit und Toleranz nicht schlecht. Allein schon, um den eigenen, heftigen Rechtsruck abzufedern. Aber ist das unsere Lösung? Darauf zu warten, dass uns ein Politiker in schillernder Rüstung aus dem Turm der Ohnmacht vom bösen, orangenen Drachen und seinen frisch geschlüpften Höckes, Petrys und LePens befreit? Wir müssen endlich aufhören, uns als naive Jungfrauen zu verstehen, die gerettet werden wollen. Denn  noch einmal in aller Deutlichkeit: So kommen Menschen wie Trump an die Macht. Oder dieser andere Freak vor 84 Jahren.

Ein demokratisch gewählter Politiker ist kein Führer, sondern Repräsentant.

Konsumieren wir politisches (Welt)Geschehen bloß, statt uns zu engagieren, dürfen wir uns über 12 Jahren Raute ohne Aussage nicht beschweren. Realpolitik ist keine Serie, die man vom Sofa anschaut und sich dann beschwert, weil einem die Besetzung nicht gefällt. Sie beginnt vor der Haustür, auf der Straße, und sei es nur die in Richtung Wahllokal. Also ja: Klare Bekenntnisse zur Vielfalt statt geduckter Telefonate über Wirtschaftsinteressen, während gleichzeitig Menschenrechte ausgehebelt werden.

Aber vor allem: Eigeninitiative. Das Netz hat mehr zu bieten als E-Petitionen und Kommentarfelder. Man kann sich dort auch organisieren. Blicken wir auf die Straßen Washingtons. Dort treffen sich Hunderttausende online, buchen Tickets, kommen aus allen Ecken des Landes und stehen für ihre Werte ein. Auch das ist das Netz: Die Freiheit, zu denken. Die Freiheit, Ideen in die Welt zu setzen und Millionen zu erreichen. Entfesselter, digitaler Kreativdarwinismus. Wir stehen am Scheideweg, wie wir die größte Idee der Menschheit nutzen wollen. Wir können oberschlaue Zyniker und rückwärtsgewandte Realitätsverweigerer bleiben– oder unsere eigene Verantwortung endlich begreifen und die Zukunft gemeinsam gestalten.

Es heißt nicht umsonst Internet der Dinge.

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